Selbstzeugnisse von Zwangsarbeiter:innen: Tagebuch des französischen Kriegsgefangenen Jean-René Vidal, Briefe von Zwangsarbeiter:innen
Wer hat das Dokument erstellt und in welchem Zusammenhang wurde es erstellt?
Jean-René Vidal (1905-1983), ein gelernter Zimmermann aus der Gegend um Bordeaux, wurde am 28. August 1939 zur französischen Armee einberufen. Die Wehrmacht nahm ihn im Juni 1940 bei Paris gefangen und brachte ihn in das Stalag III D in Berlin. Dort leistete er in zahlreichen Arbeitskommandos Zwangsarbeit – zunächst als Kriegsgefangener und ab Oktober 1943 im Status eines Zivilarbeiters. Nach seiner Befreiung kehrte er am 30. Mai 1945 in sein Heimatdorf Bazas zurück.
Vidal hielt seine Erlebnisse während der Zeit der Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit in seinem Tagebuch fest. Im Jahr 2017 erschien die deutsche Übersetzung von Ausschnitten mit dem Titel Ein Spielball in den Wirren des Krieges – Tagebuch eines Kriegsgefangenen. Das Buch enthält zudem weitere Erinnerungen von Jean-René Vidal, die sein Sohn Hervé aufgeschrieben hat.
Was ist zu sehen?
Das Tagebuch besteht aus insgesamt acht Heften, wobei das siebte Heft fehlt. Die chronologischen Einträge beginnen mit dem Tag der Einberufung Vidals in die Armee und enden am Tag seiner Rückkehr nach Frankreich. Die Sorge um seine Familie und die Schwierigkeiten, mit ihnen Kontakt zu halten, tauchen als Motive immer wieder auf. Der Großteil seiner Einträge dreht sich um seine Erfahrungen während der Arbeit in den unterschiedlichen Berliner Arbeitskommandos, die Wechsel zwischen den Kommandos, die oft mit einem Lagerwechsel verbunden waren, seine Beziehungen und Freizeitaktivitäten mit anderen französischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter:innen sowie seine wiederkehrenden Erkrankungen infolge der miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen. Häufig kommentiert er seine Situation mit bitterer Ironie. Seine Einträge vermitteln so einen Eindruck von seiner Persönlichkeit und spiegeln wider, wie sich seine Selbstwahrnehmung und sein Gemütszustand im Laufe der fünf Jahre wandeln.
Was zeigt das Tagebuch über die NS-Zwangsarbeit und was ist bei der Auseinandersetzung mit Selbstzeugnissen in der Bildungsarbeit zu beachten?
Das Tagebuch liefert einen subjektiven Einblick in die Situation von französischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter:innen in Berlin in den Jahren 1940 bis 1945. Es zeigt zudem, dass der Verfasser, Vidal, in der Lage war, sich so zu organisieren, dass Tagebuchschreiben möglich war. Papier und Stifte schienen in ausreichender Form vorhanden zu sein und er schien über Freizeit zu verfügen, in der er schreiben konnte.
In Selbstzeugnissen treten die Verfasser:innen als denkende und fühlende Akteure auf. Diese Dokumente eignen sich deswegen auf besondere Weise dafür, nachzuvollziehen, wie Menschen sich und ihre Situation einschätzten und welche Strategien sie anwandten, um mit dieser Situation umzugehen. Sie liefern zudem wichtige Hinweise über die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter:innen, die sich aus Täterdokumenten, in denen die Zwangsarbeiter:innen auf ihre Rolle als Arbeitskraft reduziert waren, nicht rückschließen lassen.
Selbstzeugnisse lassen sich unterteilen in Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus und Quellen, die nach 1945 entstanden sind. Während der Zeit der Zwangsarbeit verfassten Zwangsarbeiter:innen neben Tagebüchern unzählige Briefe. Die Verschleppung ins Deutsche Reich bedeutete für sie die Trennung von Familie und sozialem Umfeld. Mit Briefen versuchten sie, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Da der Briefverkehr der Zensur unterlag, konnten sie nicht alle ihre Erlebnisse mitteilen. Viele zeichneten auch ein möglichst positives Bild, um ihre Angehörigen nicht zu beunruhigen. Dass die schmerzhaften Erfahrungen der Trennung und Zwangsarbeit dennoch thematisiert wurden, zeigt der Brief der polnischen zivilen Zwangsarbeiterin Alicja Nabiałczyk an ihre Mutter vom 23. November 1944. Nabiałczyk hat den Text als Gedicht geschrieben und ihm die Überschrift "Sehnsucht" gegeben.
Nach 1945 sind zahlreiche Zeugnisse in Form von schriftlichen Erinnerungsberichten und Videointerviews entstanden. Im Zuge der Forderung nach Entschädigung haben viele ehemalige Zwangsarbeiter:innen Briefe verfasst, in denen sie ihren Lager- und Arbeitsalltag schildern, um ihr Schicksal zu belegen. So berichtet beispielsweise die polnische zivile Zwangsarbeiterin Maria Andrzejewska, geborene Kawecka in ihrem Brief an die Berliner Geschichtswerkstatt vom 1. Dezember 1997 über ihre Verschleppung ins Deutsche Reich und ihre Erfahrungen während der Zeit der Zwangsarbeit in Berlin in den Jahren 1942 bis 1945.
Was ist nicht zu sehen?
Selbstzeugnisse schildern Situationen aus der subjektiven Sicht einer Person. Gerade in einer Situation, in der Menschen nur eingeschränkt an Informationen kommen konnten, kommt es deswegen vor, dass Daten, Personen oder Abläufe falsch benannt sind. Verstärkt wird dies noch, wenn es sich um nachträglich verfasste Erinnerungen handelt: Im Rückblick erinnern wir uns oft an Dinge, die für unsere Gegenwart oder dafür, welches Bild wir von uns haben wollen, wichtig sind. Dinge, für die wir uns schämen, verdrängen wir oft. Autobiographische Erzählungen sagen deswegen vor allem viel über die Person, die erzählt, aus. Im Erzählen schafft sie ein Bild von sich, das ihr helfen kann, das Erlebte einzuordnen, zu verstehen und damit auch zu verarbeiten.
Brief der ehemaligen Zwangsarbeiterin Maria Andrzejewska, geb. Kawecka, vom 01.12.1997 an den Berliner Geschichtswerkstatt e.V., Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit/Sammlung Berliner Geschichtswerkstatt, dzsw1488, mit Übersetzung
Literatur
Jean René und Hervé: Ein Spielball in den Wirren des Krieges. Tagebuch eines Kriegsgefangenen. Saint-Denis: Edilivre, 2017.
Ein Digitalisat des originalen Tagebuchs befindet sich auf der Website des Archives départementales de la Gironde in Bordeaux: archives.gironde.fr/ark:/25651/vta0a782a4206ca9b62
Keller, Rolf: "Kriegsgefangene in der Reichshauptstadt: Das Stalag III D Berlin im Lagersystem der Wehrmacht", in Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin (Hrsg.): Vergessen und vorbei? Das Lager Lichterfelde und die französischen Kriegsgefangenen. Berlin: Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin, 2022, S. 20-31.