Fotografien: Private Erinnerungsfotos von zivilen Zwangsarbeiter:innen, Erfassungs- und Propagandafotos
Wer hat die Fotografien erstellt und in welchem Zusammenhang wurden sie erstellt?
Die ersten drei Aufnahmen sind private Erinnerungsfotos von zivilen Zwangsarbeiter:innen. Foto 1 und 2 stammen aus der Sammlung des niederländischen Zwangsarbeiters Adrianus Markus. Markus besaß als Einziger im Lager in Berlin-Spandau eine Kamera. Auf seinen Fotos hielt er Szenen aus dem Lageralltag fest.
Foto 3 stammt aus dem Besitz der polnischen Zwangsarbeiterin Maria Andrzejewska, geborene Kawecka. Es entstand während eines Ausflugs mit anderen polnischen Zwangsarbeiter:innen des gleichen Berliner Betriebs im Jahr 1943. Vermutlich fotografierte ein deutscher Fotograf die Gruppe vor dem Berliner Dom gegen Bezahlung.
Was ist zu sehen?
Auf Foto 1 posiert eine Gruppe junger Männer beim Essen. Auf Foto 2 halten zwei der Männer ein Kleinkind. Neben ihnen steht eine Frau. Die Stimmung wirkt ausgelassen. Auch die Gruppe vor dem Berliner Dom auf Foto 3 macht einen fröhlichen Eindruck. Alle abgebildeten Personen haben ein gepflegtes Erscheinungsbild. Dass sie Zwangsarbeiter:innen sind, ist nicht erkennbar.
Was zeigen die Erinnerungsfotos über die NS-Zwangsarbeit und was ist bei der Auseinandersetzung mit Fotografien in der Bildungsarbeit zu beachten?
Die drei privaten Erinnerungsfotos halten positive Erfahrungen und Momente während der Zeit der Zwangsarbeit fest. Sie machen die Zwangsarbeiter:innen sichtbar als Akteure, die die wenigen Handlungsmöglichkeiten, die ihnen zugestanden wurden, ausnutzten. Gepflegte Kleidung und Auftreten sowie gemeinsame Freizeitaktivitäten waren in einem durch Ausbeutung, Erniedrigung und Gewalt gekennzeichneten Alltag, Bewältigungsstrategien und Ausdruck von Selbstbehauptung. Die Zwangsarbeiter:innen missachteten dabei auch deutsche Verbote. Bei den Personen auf Foto 2 handelt es sich um zivile Zwangsarbeiter aus den Niederlanden und eine zivile Zwangsarbeiterin mit ihrem Kind aus der Sowjetunion. Der Kontakt zwischen ihnen war verboten. Foto 3 liefert zudem ein Beispiel für die unzähligen Begegnungen zwischen Zwangsarbeiter:innen und der deutschen Bevölkerung.
Was ist nicht zu sehen?
Die Zwangsarbeit und Gewalt sind auf den drei Erinnerungsfotos abwesend. Für die Zwangsarbeiter:innen war es kaum möglich, diese Bereiche ihres Alltags zu dokumentieren: In den Betrieben herrschte ein Fotoverbot. Insofern illustrieren die drei Aufnahmen, dass ein Foto immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben der Zwangsarbeiter:innen abbildet. Im Idealfall ist bekannt, wer das Foto in welcher Situation und mit welcher Absicht gemacht hat. Auch das Bildmotiv liefert Hinweise, aus welcher Perspektive und zu welchem Zweck fotografiert wurde.
Neben privaten Erinnerungsfotos entstanden zahlreiche weitere Fotos im Zusammenhang der NS-Zwangsarbeit: Erfassungsfotos von Polizei, Ämtern und Betrieben, Propagandafotos von Betrieben und Pressefotograf:innen, Privatfotos von der deutschen Bevölkerung, die Zwangsarbeiter:innen oft nur zufällig zeigen, und Fotos von alliierten Fotograf:innen.
Die Perspektive und der Zweck der Fotos sind jeweils grundsätzlich verschieden. Erfassungsfotos wurden von Tätern gegen den Willen der abgebildeten Person aufgenommen. Die Aufnahmen dienten der bürokratischen Organisation der Zwangsarbeit sowie der Kontrolle und Verfolgung der Zwangsarbeiter:innen. Zudem wurden sie zur rassistischen Selektion und Stigmatisierung verwendet. Bei dem Beispiel handelt es sich um ein Erfassungsfoto von Maria Andrzejewska. Es wurde nach ihrer Verschleppung ins Deutsche Reich am 22. November 1942 im Durchgangslager Berlin-Wilhelmshagen aufgenommen.
Betriebe ließen auch Fotografien zu Propagandazwecken anfertigen. Diese Aufnahmen beschönigen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter:innen und sollten die geordnete Organisation des Arbeitseinsatzes demonstrieren, um den Betrieb und den Arbeitgeber positiv darzustellen. Das ausgewählte Foto zeigt eine Gruppe von Frauen, Kindern und Männern aus der Sowjetunion nach ihrer Ankunft in Meinerzhagen im Sauerland am 29. April 1944. Einige präsentieren Essen und Trinken, das sie gerade erhalten haben. Die Gruppe hat zu dem Zeitpunkt, an dem das Foto entstand, bereits die entwürdigende Aufnahmeprozedur im zuständigen Durchgangslager Soest hinter sich. Dort hat "ihr" Arbeitgeber sie "ausgesucht" und zu einem betriebseigenen Sammellager für sowjetische Zwangsarbeiter:innen gebracht. Nun stehen die Männer, Frauen und Kinder vor einer Baracke und warten auf die Verteilung in die Unterkunft und zum Arbeitsort.
Literatur
Pagenstecher, Cord: "Erfassung, Propaganda und Erinnerung. Eine Typologie fotografischer Quellen zur Zwangsarbeit", in Reinighaus, Wilfried und Reimann, Norbert (Hrsg.): Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2001, S. 254-266.
Pagenstecher, Cord: "Privatfotos ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – eine Quellensammlung und ihre Forschungsrelevanz", in Meyer, Winfried und Neitmann, Klaus (Hrsg.): Zwangsarbeit während der NS-Zeit in Berlin und Brandenburg. Formen, Funktion und Rezeption. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg, 2001, S. 223-246.