Flucht

Zwangsarbeiter:innen durften weder ihren Arbeitsplatz selbstbestimmt verlassen, noch nach Hause zurückkehren. Kurze Urlaubsaufenthalte waren die einzige Möglichkeit, für einen begrenzten Zeitraum legal aus dem Deutschen Reich auszureisen. Menschen aus Polen bekamen allerdings nur in Ausnahmefällen Urlaub und Menschen aus der Sowjetunion war eine Ausreise grundsätzlich nicht gestattet. Zwangsarbeiter:innen aus dem Ausland wurde die Heimreise also in unterschiedlichem Maße verwehrt. Lagen jedoch besondere Gründe vor – eine Verletzung, Krankheit oder Schwangerschaft –, so durften sie auch unabhängig von ihrem Urlaub nach Hause reisen. In ihrer Notlage versuchten Zwangsarbeiter:innen dies zu nutzen, um sich der demütigenden Behandlung zu entziehen und nach Hause zu kommen. Menschen verletzten sich selbst, versuchten schwanger zu werden oder tauchten, sobald sie im Heimaturlaub waren, in die Illegalität unter. Die NS-Verwaltung erkannte das zunehmend als Strategie und entschied, dass selbst verletzte, kranke und schwangere Zwangsarbeiter:innen an ihrem deutschen Einsatzort bleiben mussten.

Bei einem Fluchtversuch drohten harte Strafen wie die Haft in einem Arbeitserziehungs- oder einem Konzentrationslager. Dennoch gingen viele das Risiko ein, um frei zu kommen: 1943 flohen nach Schätzungen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) monatlich ca. 45 000 ausländische Zwangsarbeiter:innen von ihren Arbeitsplätzen.

Coenraad Liebrecht Temminck-Groll war Zwangsarbeiter in Berlin. Wie alle Zwangsarbeiter:innen aus den Niederlanden konnte er sich außerhalb der Arbeit relativ frei in der Stadt bewegen, was er zur Flucht nutzte. Mit Hilfe von Schmuggler:innen versteckte er sich unter einem Zug, der ihn direkt von Berlin in seine Heimatstadt Amsterdam brachte, wo er bis zum Ende des Krieges erfolgreich untertauchen konnte.

Für sogenannte Ostarbeiter und Zwangsarbeiter:innen aus Polen war es um einiges schwieriger zu fliehen: Sie waren ständiger Überwachung nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in den Lagern und auf dem Weg zur Arbeit ausgesetzt. Hielten sie sich an die rassistischen Auflagen, beispielsweise ein Abzeichen zu tragen, boten sich ihnen nur wenige Möglichkeiten zur Flucht. Viele Menschen, vor allem aus der Sowjetunion, hätten zudem auf ihrem Weg nach Hause Fronten und Kampfhandlungen passieren müssen. Zudem war ihre Heimat oft bereits besetztes Gebiet. Für Menschen, die als Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge zur Arbeit gezwungen wurden, war die Flucht noch schwerer: Kriegsgefangene wurden von der Wehrmacht, KZ-Häftlinge in streng überwachten Lagerkomplexen untergebracht. Hier gelang es nur sehr wenigen Personen zu fliehen.

Widerstand und Selbstbehauptung

Schon allein aufgrund ihrer hohen Anzahl hätte eine koordinierte Widerstandsaktion von Zwangsarbeiter:innen den NationalsozialistInnen durchaus bedrohlich werden können. Ein System aus Bewachung und harten Strafen sollte deshalb jede Form von Widerstand – und besonders jede erdenkliche Kooperation zwischen deutschen Widerstandskämpfer:innen und Zwangsarbeiter:innen verhindern. Dennoch gab es vereinzelt organisierten Widerstand – vor allem sowjetischer Kriegsgefangener und ziviler Zwangsarbeiter:innen. Die wichtigste dieser Gruppen, von der wir heute wissen, war die "Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen". Sie wurde 1943 von sowjetischen Kriegsgefangenen in München gegründet. Ihre Mitglieder bemühten sich um Kontakt zu zivilen Zwangsarbeiter:innen und deutschen Kommunist:innen. Ihr Ziel war es, die ausländischen Arbeiter:innen in Deutschland zu organisieren, Sabotageakte zu organisieren und das NS-Regime zu stürzen. Bereits nach kurzer Zeit hatte die Organisation zahlreiche Mitglieder in verschiedenen Städten Süddeutschlands. 1944 enttarnte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) die Organisation und ermordete vieler ihrer Mitglieder im KZ Dachau. 

1944, als sich die deutsche Niederlage bereits abzeichnete, versuchten immer mehr Zwangsarbeiter:innen Widerstandsgruppen zu organisieren. In Düsseldorf gründete sich beispielsweise ein "Komitee Kampf dem Faschismus", dem vor allem Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion angehörten, und zu deren Zielen sowohl Sabotageakte, die Verbindung zu anderen Zwangsarbeiter:innen, wie die Durchführung eines Aufruhrs im Ruhrgebiet gehörten. Das tatsächlich umzusetzen wäre jedoch sehr schwierig gewesen. Meist bestand die praktische Arbeit dieser Gruppen vielmehr darin, sich gegenseitig zu helfen – z.B. bei Krankheit oder zur Flucht.

Sich in einer Widerstandsgruppe zu organisieren war für die Zwangsarbeiter:innen mit einem enorm hohen Risiko verbunden. Bei Enttarnung wurden sie in der Regel von der Gestapo ermordet.

Viele Zwangsarbeiter:innen suchten deshalb andere Wege, um sich dem Zwang zur Arbeit zu widersetzen. Manche Menschen verletzten sich selbst, um eine weniger schwere Arbeit verrichten zu müssen oder eine Pause machen zu dürfen. Andere arbeiteten gezielt langsam oder produzierten mangelhafte Waren, um NS-Deutschland zu schwächen. Vom nationalsozialistischen Regime wurden solche Handlungen als Sabotage betrachtet und entsprechend bestraft.

Solidarität, gemeinsames Singen von Liedern aus der Heimat und gegenseitige Unterstützung halfen Zwangsarbeiter:innen dabei, sich emotional gegen den rassistischen Alltag zu wappnen und diesen im Gefühl des Zusammenhalts besser zu bewältigen.

 

Literatur:

Hans Coppi, Stefan Heinz. Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2012.

Ulrich Herbert, Von der "Arbeitsbummelei” zum "Bandenkampf”. Opposition und Widerstand der ausländischen Zwangsarbeiter in Deutschland 1939-1945. In: Klaus-Jürgen Müller, David N. Dilks (Hrsg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, Paderborn 1994, S. 245-260.