Marie R. (1919-unbekannt)
Marie R. wurde 1919 in der Nähe von Oschersleben in der Magdeburger Börde als Tochter einer Arbeiterfamilie geboren. 1936 ging sie im Alter von 17 Jahren aus unbekannten Gründen von zu Hause weg. Kurze Zeit später wurde sie aufgegriffen und in das Heim St. Michael in Niederschönhausen bei Berlin gebracht.
Im selben Jahr wurde Marie R. auf der Grundlage eines Gerichtsbeschlusses zwangssterilisiert. Dieser Zwangssterilisation wurden die psychiatrischen Diagnosen "Schwachsinn", "Psychopathie", "sexuelle Haltlosigkeit" und "Stehltrieb" vorangestellt: In der nationalsozialistischen Medizin und Psychiatrie wurden solche Diagnosen auch verwendet, um unerwünschtes Verhalten als abnormal oder pathologisch zu kategorisieren. Wir wissen nicht, was Marie R. über diese Diagnosen dachte und wie sie sich selbst sah.
Umgang des NS-Regimes mit abweichendem Verhalten
Dass Marie R. zwangssterilisiert werden konnte, beruhte auf dem bereits 1934 in Kraft getretenen "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Mit diesem Gesetz, ebenso wie später mit den "Nürnberger Rassegesetzen" (1935) beanspruchten die Nationalsozialisten den totalen Zugriff auf die Körper von Menschen, die sie als "rassisch", religiös und politisch "minderwertig" betrachteten. Diese totale Verfügungsgewalt reichte von der unfreiwilligen Einweisung in staatliche Anstalten über die Zwangssterilisation bis hin zur Ermordung von Kranken, beschönigend als "Euthanasie" bekannt. Diese Politik stand im Kontext des Projekts eines "erbgesunden Volkskörpers": Menschen, die aus verschiedenen Gründen als "minderwertig" galten (darunter psychisch Kranke und behinderte Menschen), sollten daran gehindert werden, Kinder zu bekommen und ihr "Erbgut" weiter zu geben. Das gleiche galt für unangepasstes Verhalten und Nichtarbeit. Beides betrachteten die NationalsozialistInnen als "biologischen Schaden" am "Volkskörper" und kriminalisierten es als "asozial". Kriminalität oder unangepasstes Verhalten wiederum betrachteten die NationalsozialistInnen nicht als soziales oder gesellschaftliches Problem. Stattdessen stellten sie es als ein biologisch-genetisches Problem dar, das gelöst werden könne: Nur eine kleine Gruppe von "Berufsverbrechern" und "Asozialen" sei erblich dafür veranlagt und verantwortlich. Mit ihrer systematischen Ausgrenzung und Vernichtung sollte auch die Kriminalität als soziales Phänomen verschwinden.
Als Zwangsarbeiterin im Arbeitshaus
Marie R. wurde kurze Zeit nach ihrer Zwangssterilisation in Untersuchungshaft genommen und in ein anderes Heim eingewiesen. Sie erschien den NationalsozialistenInnen wahrscheinlich als sozial unangepasst, und wohl aus verschiedenen Gründen – darunter ihre psychiatrische Diagnose und die Wahrnehmung ihres Sexualverhaltens – als "minderwertig". Ihre Familie konnte die Kosten für dieses Heim wahrscheinlich nicht aufbringen: Ihr Vater beantragte daher, dass sie in ein Arbeitshaus eingewiesen würde. Marie kam in das Städtische Arbeits- und Bewahrungshaus in Lichtenberg, das sogenannte "Arbeitshaus Rummelsburg". Das "Arbeitshaus Rummelsburg" war während des Nationalsozialismus ein Zentrum der Internierung und Zwangsarbeit für als "asozial" stigmatisierte Menschen. Die Inhaftierten leisteten Zwangsarbeit in so genannten Stadtkommandos, unter anderem in städtischen Betrieben wie Friedhöfen, Wäldern, Parks, aber auch in Industriebetrieben und bei der städtischen Grundversorgung.
Marie R. wurden von den NationalsozialistInnen verfolgt, weil sie am Rande der Gesellschaft lebte, weil sie als psychisch krank galt, weil sie arm war und weil ihr Leben nicht in das totalitäre Menschenbild der NationalsozialistInnen passte. Dies rückt ihre Verfolgung in ideologische Nähe zur diffusen Kategorie der "Asozialen".
Verschüttete Geschichten
Im Alter von 21 Jahren gelang Marie R. die Flucht aus einem Arbeitskommando außerhalb des Arbeitshauses, wie die Rummelsburger Verwaltung am 14. Mai 1942 berichtete. Die weitere Geschichte von Marie R. ist danach verloren – wir wissen nichts über ihr Schicksal.
Die Spuren, die Marie R. hinterließ, sind Fragmente eines ganzen, weitgehend unbekannten Lebens. Nicht einmal ein Bild von ihr ist erhalten geblieben. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft interessierten sich nur wenige für die von den Nationalsozialisten aus sozialrassistischen Gründen verfolgten Menschen. Kaum jemand, der im Nationalsozialismus als "asozial" oder "gemeinschaftsfremd" diffamiert wurde, konnte seine Lebensgeschichte erzählen – auch nicht Marie R., deren Lebensdaten nur durch die Dokumente der Täter bekannt sind. Die Verfolgung von gesellschaftlichen Außenseitern führte auch dazu, dass ihre Lebensgeschichten vergessen, verfälscht und von anderen dargestellt wurden.